Leseprobe

Hier finden Sie einen kleinen Auszug aus dem Buch "In den Schründen der Arktik".





Ich schulde meinen Lesern ein klärendes Wort.

Karl May sei nur ein einziges Mal in seinem Leben in Amerika gewesen, heißt es immer wieder. Zum Beweis werden Photographien von mir an den Niagarafällen, vor Indianertipis und am Grabdenkmal des großen Häuptlings Sa-go-ye-wat-ha auf einem Friedhof in Buffalo vorgezeigt. Ja, es wird sogar eine Jahreszahl im Zusammenhang mit meinem angeblichen Besuch all dieser Stätten genannt, und zwar 1908. Dabei ist allgemein bekannt, dass ich die Neue Welt seit meiner Jugend immer wieder besucht habe und nicht nur - und schon gar nicht zum ersten Mal! - 1908. Den Beweis liefern meine zahlreichen Schriften. Oder will etwa jemand, um nur ein Beispiel anzuführen, behaupten, Winnetou habe nie gelebt und sei lediglich meiner Phantasie entsprungen? Ebenso wie alle Abenteuer mit ihm?
Jawohl, ich war im Jahre 1908 in Amerika (wenn auch beileibe nicht zum ersten Mal). Doch habe ich - dieser Umstand mag manchen überraschen, nicht jedoch Sie, die Leser meines Buches "In den Schründen der Arktik" - die Orte, an denen mich besagte Photos zeigen, damals nicht besucht. Mein Buch "Winnetou Vier" mag zu dieser weit verbreiteten Ansicht nicht unwesentlich beigetragen haben. Doch sind die Lichtbilder von meinem angeblichen Besuch in Buffalo und an den Niagarafällen samt und sonders geschickte Fälschungen, sie wurden von Klara in meinem Auftrage ausgeführt.
Keine Fälschungen sind lediglich diejenigen Photographien, die mich neben meiner Frau auf dem Promenadendeck deutscher Überseedampfer zeigen, angeblich bei der Hin- und Rückfahrt über den Atlantik im Jahr 1908. Diese Bilder haben meine Neider und Widersacher, die von der zeitgenössischen Literaturgeschichte zutreffend als Karl-May-Hetzer bezeichnet werden, im Eifer ihrer Lügen und Gehässigkeiten absichtlich falsch datiert. Alles nur, um auch damit die Legende von meiner einzigen Amerikareise in jenem Jahre zu stützen. Selbstverständlich haben meine Frau Klara und ich bei gemeinsamen Ozeanüberquerungen stets deutsche Überseedampfer gewählt. Allein in dem Jahr, von dem hier die Rede ist, sind wir gar nicht zusammen über den Atlantik gefahren. Sie, lieber Leser und liebe Leserin, haben die näheren Umstände, die dazu führten, selbst miterlebt.
Das alles mag etwas verworren klingen. Doch glauben Sie mir: nicht in sogenannten Dokumenten sogenannter Karl-May-Forscher und anderer Stubengelehrter lebt der wahre Karl May. Auch nicht in den Produkten lichtscheuer Photolaboranten. Der wahre Karl May lebt in seinen Büchern.
Wie ich nach Nordgrönland kam, habe ich Ihnen erzählt. Die "Roosevelt" legte am 6. Juli 1908 von Neuyork ab, meine Frau Klara und ich waren als Gäste des Expeditionsleiters Robert Peary an Bord - Schiffsregister und Versicherungspapiere beweisen es. Zwar hatte ich mich auf Pearys Bitte - Sie werden sich erinnern - finanziell an den Kosten der Expedition beteiligt, sogar in einem für den Fregattenkapitän so prekären Augenblick, dass ich annehmen darf, mein Eingreifen habe damals das ganze Unternehmen gerettet; allein dieser Umstand ändert nichts an der Tatsache, dass wir beide Herrn Fregattenkapitän Pearys Einladung folgten und uns als seine Gäste fühlten.
Wir hatten, auch das soll hier noch einmal betont werden, lediglich die Absicht, Peary bis zu jenem Punkt das Geleit zu geben, an dem er im nächsten Frühjahr von der "Roosevelt" auf Eskimoschlitten umsteigen wollte für seinen Vorstoß zum Nordpol.

Es kam dann alles ganz anders. Zwar blieb der Rahmen unverändert, doch für mich ergaben sich Abweichungen vom geplanten Ablauf, die ich - in aller Zurückhaltung beim Gebrauch des Wortes - als entscheidend bezeichnen muss. Sie wissen darum.
Kurz entschlossen blieb ich, nachdem ich es mit Klärchen so besprochen und sie zugestimmt hatte, bei den Überwinterern und brach, sobald der erste Lichtstreif am Horizont das nahe Ende der Polarnacht kündete, mit diesen in Richtung Nordpol auf - ohne dass Peary um meine Identität wusste. Meine Frau kehrte ohne mich nach Neuyork zurück. An Bord sagte sie Neugierigen, die es überall auf der Welt gibt und natürlich auch auf jenem Schiffe gab, ich sei schwer seekrank, könne meine Koje nicht verlassen und es sei kaum anzunehmen, dass ich bis zum Ende der Passage gesunde. Doch damit war ihre Rolle, die sie mit viel heiterer Gelassenheit für sich gewählt hatte, noch längst nicht zu Ende.

Die falsche Spur, von Klara höchstselbst auf umsichtige Weise fabriziert - so überzeugend, dass sogar beste Freunde darauf hereinfielen - führte sodann nach Buffalo zu jenem Friedhof mit dem Grabdenkmal des großen Häuptlings Sa-go-ye-wat-ha und zu den Niagarafällen. Inmitten des regen Touristenrummels gelang es ihr stets, ältere Herren meiner Statur und Barttracht zu finden und diese statt meiner Wenigkeit auf die photographischen Platten zu bannen. Die Bilder sind, denke ich, unscharf genug, um jede Gewissheit hinsichtlich der wirklichen Persona der Dargestellten von vornherein auszuschließen. Man kann zwar einen Menschen unschwer anhand seiner Fußspuren und vielleicht sogar durch seine Fingerabdrücke identifizieren, nicht aber nach dem verführerisch schimmernden Zeugnis angeblicher Konterfeis. Was haben wir beide schon über diesen ausgefuchsten Lausemädelstreich meines Herzles gelacht! Später streute sie gar das Gerücht aus, wir seien von den Großen Seen her stehenden Fußes in den Wilden Westen gereist; und ich habe, dem Rat Fehsenfelds folgend, in der endgültigen Fassung von "Winnetou Vier" diese Reise genau beschrieben.
Dabei war ich als Eskimo Tulimak längst mit Peary zum Pol unterwegs. Mein Glück wollte es, dass Peary mich gleich beim Ausmarsch auf das Eis der Polarsee seinem schwarzen Diener Matt Henson zuteilte. Am letzten Abend vor dem Aufbruch vom Festland saßen wir in Gruppen beisammen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Die lange Polarnacht lag endlich hinter uns.

Peary trat zu uns ans Feuer. Er sah in die Runde, vermied jedoch, in die Gesichter zu blicken. Vielleicht verdanke ich diesem Umstand das Gelingen des Planes. "Morgen brechen wir auf", sagte er. "Schlagt euch den Bauch nicht zu voll. Und nachher die Hunde. Richtig füttern, klar?"
Er sprach das Inuit nach all den Jahren noch immer unbeholfen und ein wenig holprig. Ich schaute in die Flammen und schwieg mit den anderen Gespannführern. Der Himmel ringsum glühte in zartem Purpur. Nun würde er mit jedem Tag heller aufflammen.

Die Eroberung der Arktik durch mich, den Eskimo Tulimak, hatte begonnen.





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